Medizinnobelpreis 1910: Albrecht Kossel

Medizinnobelpreis 1910: Albrecht Kossel
Medizinnobelpreis 1910: Albrecht Kossel
 
Der deutsche Biochemiker wurde »in Anerkennung seiner Beiträge über die Beschaffenheit der Zelle, die er durch seine Arbeit über Proteine, einschließlich der Kernsubstanzen, geleistet hat«, ausgezeichnet.
 
 
Albrecht Kossel, * Rostock 16. 9. 1853, ✝ Heidelberg 5. 7. 1927; 1883 Leiter der chemischen Abteilung des Physiologischen Instituts der Universität Berlin, hier 1887 außerordentlicher Professor für Physiologie und Anatomie, 1895 Ordinarius für Physiologie und Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Marburg, 1901-24 Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Heidelberg, 1924 Direktor des neu gegründeten Instituts für Proteinforschung.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Kossel wurde frühzeitig durch seinen Lehrer Felix Hoppe-Seyler angeregt, die chemische Zusammensetzung des Zellkerns näher zu untersuchen. Insbesondere interessierten ihn zunächst die Nucleinstoffe, die 1869 von dem Schweizer Physiologen Miescher in Eiterzellen entdeckt und als Nuclein bezeichnet wurden. Kossel gelang es 1879, das Nuclein auch aus Hefe und anderem Kernmaterial zu isolieren. Später fand er Nuclein in kernlosem biologischem Material.
 
 Die Entdeckung einer neuen Base
 
In den zwölf Jahren seiner Berliner Tätigkeit gelangen Kossel bahnbrechende Entdeckungen. Am 12. Januar 1885 berichtete der 31-jährige Privatdozent für Physiologie und Anatomie Albrecht Kossel auf einer Tagung der Deutschen Chemischen Gesellschaft in Berlin: »Bei der Zersetzung des Nucleins durch verdünnte Säuren habe ich eine neue Base von allgemeiner Verbreitung aufgefunden. Diese Base, für die ich den Namen »Adenin« vorschlage, wurde aus Pankreasdrüsen vom Rind dargestellt.« Im folgenden Jahr veröffentlichte er genaue Angaben über Herstellung und Analysen sowie erste Hinweise zur Struktur des Adenins. Mit der Entdeckung des Adenins wurde ein entscheidender Schritt zur Aufklärung der molekularen Grundlagen der Vererbungs- und Entwicklungsabläufe lebender Zellen und ihre Lokalisation im Zellkern getan.
 
Kossels großes Verdienst besteht darin, dass er unter den Spaltprodukten jener Substanzen, die 1899 durch den Biochemiker Altmann den Namen Nucleinsäuren erhielten, sämtliche Basen entdeckte und ihre Konstitution aufklären konnte: Adenin (1885), Thymin (1893), Guanin (1894), Cytosin (1894) und Uracil (1903). Kossel verdanken wir auch den Nachweis von Kohlenhydraten in den Nucleinsäuren und ihre kovalente Verknüpfung mit den Basen. Seine Vermutung, dass es eine Pentose sei, wurde später von Levene bewiesen. Kossels Schüler Hermann Steudel fand später nach Analysen, dass in Nucleinsäuren die Base mit einem Molekül Kohlenhydrat und einem Molekül Phosphorsäure verbunden ist. Ungeklärt blieb die genaue Verknüpfung der Bausteine.
 
 Untersuchungen an komplexen Nucleinsäuren
 
In Marburg und Heidelberg widmete sich Albrecht Kossel zielstrebig der Eiweißstruktur des Zellkerns. Komplexe Nucleinsäuren werden als lockere Verbindung zwischen Nucleinsäure und Proteinen definiert, ähnlich einem Salz. Bei Zusatz verdünnter Säure löst sich der Eiweißanteil auf, während die Nucleinsäure zurückbleibt. Ähnliche lockere Verbindungen wurden auch in Drüsengewebe von Thymus, Lymphe und Milz gefunden. In Spermatozoen von Warmblütlern fand Kossel eine feste Bindung von Nucleinsäure und Protein. Er wies nach, dass die von Miescher genannten Protamine mit ihren basischen Eigenschaften auf einen hohen Anteil der basischen Aminosäuren Lysin und Arginin zurückzuführen sind. Die stark basischen Gruppen führen zu stärkeren salzartigen Verknüpfungen zwischen Nucleinsäuren und Protein. Kossel postulierte, dass die basischen Proteine (Protamine) im Verlauf der Evolution durch »Umformung der gewöhnlichen Proteine« entstanden sind, indem die stickstoffärmeren Aminosäuren allmählich herausgelöst wurden. In seinem Nobelpreisvortrag formulierte er: »Diese Umformung führte von den gewöhnlichen Proteinstoffen zunächst zu den Histonen und später zu den Protaminen, die reicher an basischen Aminosäuren als Histone sind, wie zum Beispiel das Sturin aus Störsperma«.
 
Interessant sind Kossels Überlegungen hinsichtlich der Zusammensetzung der »Chromatingebilde«. »Die stickstoffreichen [Proteine] und phosphorhaltigen Atomgruppen [Nucleinsäuren] sind es, deren Ablagerungsstätten in den »Chromiolen« [heute als Chromosomen bezeichnet] bei der Zellteilung zuerst in Bewegung gesetzt werden und deren Übertragung auf andere Zellen einen wesentlichen Teil des Befruchtungsvorgangs ausmacht.« Bei Untersuchungen der Protamine entdeckte Kossel 1896 mit dem Histidin eine neue Aminosäure und mit der Arginase ein bisher unbekanntes Enzym, das Arginin in Ornithin und Harnstoff spaltet.
 
 Biologische Schlussfolgerungen
 
Sehr aufschlussreich und dem damaligen Erkenntnisstand weit vorauseilend sind seine Überlegungen zur hierarchischen Organisation subzellulärer Bestandteile. Die Atome sind nicht endlos aneinander gereiht, sondern zu höheren Einheiten zusammengefasst, die ihrerseits Bausteine höherer Strukturen sind. Bei den Protaminen suchte er nach wiederkehrenden Aminosäurekombinationen und stellte empirische Formeln auf. Den im Verlauf der Spermienreife erfolgten Anstieg des Stickstoffgehalts der Kerneiweiße deutete er als Umbau der normalen Proteinmasse in Histone und schließlich in Protamine. Aus solchen Überlegungen entwickelte er den Begriff »Prosthetische Gruppe« bei Eiweißmolekülen. Er postulierte, dass die physiologische Funktion der Proteine aus ihrer Struktur abzuleiten sei, konnte dies jedoch mit der damaligen Methodik nicht beweisen.
 
Ebenso modern erscheint seine Auffassung von den chemischen Grundlagen der Zellteilung, Vererbung, Reifung und Entwicklung. 1921 formulierte er in einer akademischen Rede folgende Vision: »Diese und ungezählte andere Erbfaktoren werden bei der Befruchtung übertragen und müssen also in dem befruchteten Ei in kleinster Dimension niedergelegt sein. Wir können uns kaum eine andere Vorstellung von der Festlegung so vieler Form und Stoff bestimmender Anlagen auf engstem Raum machen als dadurch, dass wir sie auf die Lagerung der Moleküle und Atome beziehen.« Bei der Erforschung der Vererbungsprozesse musste fast noch ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe die Struktur der Nucleinsäuren vollständig aufgeklärt und das Geheimnis des genetischen Codes entschlüsselt wurde. Als 1962 Crick, Watson und Wilkins für die Strukturaufklärung der Desoxyribonucleinsäure (DNS) als Doppelhelix mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, war die Existenz der vier Basen und die ihre Anordnung nach genauen räumlichen Bauprinzipien zur gesicherten Erkenntnis geworden. Albrecht Kossel hat mit seinen Entdeckungen der Nucleinsäurebausteine unvergessene Verdienste bei der Aufklärung der Lebensprozesse erworben.
 
G. Sauer

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Liste der Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin — Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wird seit 1901 jährlich vergeben und ist mit 10 Mio. Schwedischen Kronen dotiert. Die Auswahl der Laureaten unterliegt dem Karolinska Institut. Der Stifter des Preises, Alfred Nobel, verfügte in seinem… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”